Kester Grant – Der Hof der Wunder
Manchmal frage ich mich, wie mir solche Schätze wie Der Hof der Wunder so lange entgehen
konnten. Ja, es ist erst am Anfang Dezember erschienen, aber ich bin auf dieses
Buch erst Ende November gestoßen, als ich nach Neuerscheinung des Folgemonats
gestöbert habe.
Erst hat mich das Cover gecatcht (obwohl das Originalcover hundertmal schöner
ist), dann der Klappentext: Ein alternatives Paris in dem die Französische
Revolution gescheitert ist, skrupellose Adlige teilen sich die Stadt mit
Verbrechern, die in Gilden organisiert sind. Nina Thénardier ist Teil der
Diebesgilde und untersteht somit dem Schutz des Herrn der Diebe. Thénardier? Da
war doch was.. Und ja, auf der Homepage der Autorin wird das Buch als Retelling
von Les Misérables und Das Dschungelbuch
beworben. Wie das funktionieren soll? Ich wurde auf der Homepage der
Autorin fündig und war noch mehr davon überzeugt, dass ich dieses Buch
schnellstmöglich lesen möchte: die komplette Besetzung von Les Misérables ist Teil der Geschichte, Das Dschungelbuch hingegen ist nicht mit Tieren vertreten, Kester
Grant hat die Charaktere für ihren Debütroman vermenschlicht.
Im englischen Original erscheint The
Court of Mircales erst im Frühjahr 2020. Doch wir dürfen schon jetzt in den
Genuß dieses Trilogieauftakts kommen. Und ja, es ist ein Genuß. Und was für
einer!
Kester Grants Schreibstil ist bildhaft, blumig und
detailliert und passt zu der Zeit, in der die Geschichte spielt. Manchmal
wirken die Sätze geradezu vornehm, im krassen Gegensatz zu dem Elend, das sie
beschreiben. Kurze Abschnitte zu Beginn mancher Kapitel, die die Geschichte der
Stadt erzählen, schaffen einen tollen Überblick darüber, was nach dem Scheitern
der Revolution geschehen ist.
Das Setting ist so, wie man sich Paris zu Zeiten großer Not vorstellt. Dreck,
Krankheit, Verbrechen auf der Seite der Armen und der Elenden, den Kindern des Hofs
der Wunder, regiert durch die Zusammenkunft der Gildenherren an der Hohen Tafel.
Auf der anderen Seite der Adel, Kuchen essend und mit dem Leben der Armen
spielend.
Die Französische Revolution ist in diesem alternativen Paris gescheitert, der
Epochenumbruch in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht ist
ausgeblieben. Der Absolutismus und die Ständegesellschaft werden hingenommen und
nicht in Frage gestellt, ein König regiert von Gottes Gnaden, ohne Verfassung,
ohne Gesetze, ohne Grundrechte des Einzelnen. Eine unglaublich spannenden
Ausgangssituation, die vielleicht auf den ersten Blick nicht wirklich
ersichtlich ist. Man denke nur an die Restauration und die Wiederherstellung
der Monarchie und den Juliaufstand 1830. Aber ein Umbruch kann nie von heute
auf morgen passieren, er braucht Zeit. Vor allem auch, um die Denkweisen der
Menschen zu verändern, ihnen bestimmte Werte zu vermitteln, um eine Nation
aufzubauen und sie zu stärken. Und dieser Umbruch, die Verfassung von 1791, die
Grundrechte, alles das ist in Ninas Paris nie passiert.
Doch nun weg von der Geschichte Frankreichs, hin zur Geschichte
Nina Thénardiers. Deren Leben in Sicherheit endet, als ihr Vater ihre Schwester
Azelma an Kaplan verkauft. Kaplan, der Tiger, herrscht über die Gilde des
Fleisches, deren Geschäft Prostitution und Menschenhandel ist. Nina wird von
einem Freund Azelmas am selben Tag zur Gilde der Diebe gebracht, um sie vor
ihrem Vater zu schützen. Dort wird sie zur Schwarzen Katze, der besten Diebin
der Gilde. Doch immer noch sind ihre Gedanken bei ihrer Schwester, die sie aus
den Fängen Kaplans retten möchte. Der Plan: Kaplan etwas vorzuführen, ihm
jemanden schmackhaft zu machen, um sie dann seiner Reichweite zu entziehen. Sie
hat ein kleines Mädchen dafür gefunden. Ettie, wunderschön, mitfühlend,
kindlich naiv, Mündel ihres Vaters. Und Kaplan will sie. Kurz bevor sich er und
Thénardier über Etties Preis einig sind, trifft Nina die richtige Entscheidung
dazu, dass sie Ettie nicht Kaplan überlassen kann, selbst dann nicht, um ihre
Schwester zu retten. Nun richtet sich Ninas Fokus auf Ettie und sie wird alles
tun, um sie vor Kaplan zu beschützen.
Nina ist ein toller Charakter. Sie ist mutig, ja, wagemutig, sie macht alles
für diejenigen, die sie liebt. Tomasis, ihren neuen Vater, Herr der
Diebesgilde, ist ihr mehr Vater als Thénardier es jemals war. Das vergilt sie
mit Treue und außergewöhnlichen Geschenken. Und Ettie.. Ettie wird für sie wie
eine Schwester. Doch da Kaplans Begehrlichkeit nun geweckt ist, muss sie sich
eine List überlegen, um sie seinem Griff zu entziehen. Dabei findet sie
Verbündete, keine Freunde, denn diese gibt es nicht am Hof der Wunder. Und sie
findet Feinde, Feinde, die alles versuchen, ihre Pläne zum Scheitern zu
bringen. Somit stellt es eine große Herausforderung dar, Ettie zu beschützen, die
sie mit ihrer Schläue und Cleverness zu bewältigen versucht. Und als ob das
nicht schon reichen würde steht Paris erneut vor dem Kollaps. Eine neue
Hungersnot, eine neue Seuche wütet und macht das Leben in den Straßen und der
Unterwelt der Stadt noch schwieriger, als es eh schon ist.
Auch die anderen Personen sind unglaublich gut gezeichnet. Ettie schließt man mit ihrer kindlich-freudigen Art sofort ins Herz, die anderen Charaktere wie Orso, Loup oder auch Montparnasse sind ebenfalls auf ihre Art besonders entwickelt. Unheimlich, geheimnisvoll, aber treue Verbündete Ninas und nicht nur dadurch sympathisch.
Die Parallelen zu Les Misérables sind unübersehbar, die zum Dschungelbuch eher weniger. Ich glaube nicht, dass mir alle Personen bewusst als die Charaktere aufgefallen sind, wie Rudyard Kiepling sie erdacht hat. Schon allein deswegen, weil ich sein Buch nie gelesen habe und ich nur die romantische Disneyversion kenne. Aber das macht nichts, denn auch ohne dieses Wissen hat mich die Geschichte vollkommen eingenommen und in ihren Bann gezogen. Denn sie ist spannend, voller Freundschaft, Verrat und Loyalität. Voller Rache, Schmerz und Listen, voller Leid, Mitgefühl und Trauer. Magie jedoch ist nicht Teil der Welt, doch dieses historische Fantasybuch kommt auch ganz ohne aus. Denn die Magie liegt in der Geschichte, im Kampf Arm gegen Reich, im Kampf Ungerechtigkeit gegen Recht, im Kampf der Elenden gegen den Adel. 5 Sterne.