Rezensionen

Selin Visne: Die Überlieferung der Welt

Manchmal schaffen es Bücher, mich zu überraschen. So hatte ich keine höheren Erwartungen an ‚Die Überlieferung der Welt‘ als gute Unterhaltung. Und die habe ich auch bekommen. Und obendrein einen sehr atmosphärischen Fantasyroman, der mit tollen Ideen aufwartet und noch dazu mit einem Schreibstil, bei dem man meinen könnte, die Autorin sei ein alter Hase und schreibe schon ihr Leben lang solche Geschichten. Doch ‚Die Überlieferung der Welt‘ ist Selin Visnes Debüt und sie selbst noch keine 20 Jahre alt. Umso mehr freut es mich, dieses Buch entdeckt und gelesen zu haben und hoffe nun auf baldigen Nachschub der Autorin.

Ich kann gar nicht genau festmachen, warum ich das Gefühl habe, der Geschichte einer Autorin zu folgen, die schon zig Bücher geschrieben hat. Vielleicht ist es die Wortwahl, vielleicht sind es die Beschreibungen und die Stimmung, die transportiert wird. Es passt einfach. Ich bin von der ersten Seite an gefangen von Selin Visnes Schreibstil und der Welt, die sie geschaffen hat. Schauplatz der Geschichte sind die Neuen Götterlande, zur Orientierung gibt es vorne im Buch eine hübsch gestaltete Karte. Ja, ich wiederhole mich, aber: Ich liebe Karten! Und hier ist sie auch sehr hilfreich, begeben wir uns doch auf eine Reise durch den Kontinent. Und noch eine Wiederholung, denn: Ich liebe Geschichten, in denen auf Reisen gegangen wird! Dabei lernen wir auch nach und nach das Magiesystem kennen, das mir besonders gut gefallen hat. In den Neuen Götterlanden wird man mit Magie geboren. Oder eben nicht. Ist man magielos wird man von den Magischen eher wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt. Dieses Verhalten wird ausgeprägter, je adliger die magische Person ist. Die verschiedenen Begabten können fünf Magiekategorien zugeordnet werden, die ebenfalls vorne im Buch beschrieben werden. Das ist vor allem zu Beginn hilfreich, wenn man noch nicht den vollen Überblick gewonnen hat. Die Fähigkeiten sind interessant und es macht Spaß, sie zu entdecken.

Die Geschichte selbst wird aus der Sicht eines personalen Erzählers geschildert, wobei wir jeweils einem der sechs Reisenden folgen. Manchen von Beginn an, manche Handlungsstränge erzählen hingegen, warum er oder sie zur Gruppe stößt. Alle haben etwas verloren und das Versprechen eines Sehers bringt sie dazu, sich auf eine gefährliche Reise zu begeben. Die Personen sind mir alle sympathisch, wobei man nicht alle in der gleichen Tiefe kennenlernt. Die auf dem Klappentext erwähnten Laelia und Hadrian sind die Charaktere, denen man am intensivsten begegnet.

Laelia ist nach dem Tod ihres Vaters dafür verantwortlich, ihre Familie über Wasser zu halten. Ihre Mutter ist bei dem Unglück, das ihrem Vater das Leben gekostet hat, schwer verletzt worden und seitdem auf den Rollstuhl angewiesen. Aurel, ihr Bruder, ist noch zu klein um die Familie zu ernähren. Also schlägt sich Laelia als Diebin durch’s Leben, ist dadurch Entbehrungen gewöhnt, mutig und kämpferisch. Ich mochte sie sehr, vor allem im Zusammenspiel mit Hadrian. Mit diesem hat sie vor dem Start unserer Geschichte eine Nacht verbracht und seitdem kreuzen sich ihre Wege immer mal wieder. Hadrian ist ein Vertrauter Neros, dem Herrn der Unterwelt, und somit gar kein Umgang, den man sich als junges Mädchen wünschen würde. Noch dazu ist Hadrian seeehr von sich überzeugt, in jeglicher Hinsicht. Das führt zu amüsanten Wortwechsel und amourösen Dynamiken, die die Geschichte an den richtigen Stellen auflockert. Doch keine Sorge, eine Liebesgeschichte steht hier nicht im Vordergrund. Auch wenn Hadrian anfangs nicht vertrauenswürdig erscheint, hat er sein Herz am rechten Fleck und die Chance, das richtige zu tun.

Als ich dann bei ca. der Hälfte des Buches angelangt war, dachte ich mir noch, es müsse noch so viel passieren, dafür reichen die noch kommenden Seiten gar nicht. Und doch hat es gereicht, sogar so, dass nie der Eindruck entstanden ist, es würde überhastet erzählt werden oder Dinge ausgelassen. Selin Visne schafft es, eine sehr tolle und dichte Atmosphäre zu erzeugen, selbst wenn oft zwischen den Kapiteln und Personen hin- und hergesprungen wird. Ich hatte nie das Gefühl, etwas zu verpassen und für jeden der Sechs wurde sich ausreichend Zeit genommen, um seine Intention zu erfahren, seine Beweggründe.

Erst kurz vor dem Ende kommt mir dann der Gedanke, dass alles anders ausgehen könnte, als ich mir das gedacht habe. So eingelullt war ich von der Welt und ihren Bewohnern, von der Magie und der Gefahr, die für diejenigen von ihr ausgeht, die ihr nicht mächtig sind. Erwähnenswert ist das Ende dann auf alle Fälle, ohne den Ausgang zu verraten. Denn es ist sehr offen gehalten. Das liest man eigentlich viel zu selten, oftmals gibt es sogar noch einen Epilog, der eine gewisse Zeit nach den Ereignissen spielt. Hier jedoch kann man sich denken was passiert, aber man weiß es nicht sicher. Das gefiel mir super und lässt Raum für die eigene Fantasie. 5 Sterne.

Klappentext

Nur zusammen können sie ihr Schicksal erfüllen, doch können sie einander vertrauen?

Seit dem Tod ihres Vaters hält Laelia sich und ihren kleinen Bruder mehr schlecht als recht über Wasser, indem sie ihre geschickten Finger immer häufiger in fremde Taschen gleiten lässt. Bis Nero, der Herr der kriminellen Unterwelt, auf sie aufmerksam wird und der frechen Taschendiebin Einhalt gebieten lässt. Hadrian ist als Neros designierte Hand scheinbar am Ziel seiner Träume, doch will er dem Herrn der Unterwelt auch den letzten Teil seiner Seele überschreiben? Als Hadrian sich gegen seinen Ziehvater wendet, müssen er und Laelia aus ihrer Heimat fliehen. Sie schließen sich einem Seher an, dessen Vision sechs widerwillige Gefährten auf eine gefährliche Reise schickt. Doch jeder von ihnen hat etwas zu verbergen und mächtige Feinde wollen um jeden Preis verhindern, dass sich die Prophezeiung erfüllt.

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Bibliographie

dtv
Einzelband
ET: 13.03.2020
Taschenbuch 10,95 €, eBook 9,99 €
448 Seiten
ISBN: 978-3-423-71852-3
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